YueYue oder: Der Vogel, der seinen Kopf zu weit herausstreckt, wird abgeschossen

Vermutlich haben viele von euch in den letzten Tagen die Schreckensnachricht von der kleinen Yue-Yue erfahren, die in Guangzhou gleich zweimal überfahren wurde, da sie nach dem ersten Unfall von allen Passanten einfach liegengelassen wurde. Wenn ich richtig informiert bin, ist sie mittlerweile gestorben.

Die Geschichte kommt mir vor wie die gut durchdachte Kurzgeschichte eines Tragikers, der alle Register ziehen wollte: Ein kleines Mädchen, gleich zwei Unfälle, vorbeilaufende Passanten, die einzige Helferin ausgerechnet eine Müllsammlerin.

Und dennoch scheint die Geschichte garnicht an den Haaren herbeigezogen. Dass im Chaos des chinesischen Großstadtverkehrs immer wieder Menschen übersehen und von Fahrzeugen mitgerissen werden, ist trauriger Fakt. Aber auch das fehlende Hilfeleisten der Chinesen passt ins Bild. Chinesen wollen niemals auffallen - auch oder gerade nicht im positiven Sinne. Sie bewegen sich in der Masse - nicht zuletzt der Kommunismus hat sicherlich dazu beigetragen, aber auch unter all den Kaisern, die das Land über Jahrtausende regiert haben, hielt man sich besser zurück. Das Wort "Individualismus" hat hier einen Beigeschmack von "Egoismus", ist somit nicht sehr positiv besetzt und zudem ist "Individualismus" und damit verbunden eine Eigenständigkeit und Mut, die einen bereits zu etwas besonderem machen, auch noch gefährlich: Laozi, 600 Jahre vor Christus, warnte seine Mitmenschen bereits davor: "Ducke sich, wer sich schützen will!" soll er gepredigt haben. Und Zhuangzi, ein Philosoph des 4. Jh. vor Christus, präzisierte: "Gebt vor, ein normaler Baum zu sein; denn wer von besonderem Holz ist, den fällt die Axt, noch ehe er richtig ausgewachsen ist."

Man hat Angst vor dem Neid und der Gier der Mitmenschen und - wie könnte es anders sein - natürlich auch der bösen Geister...

 

Als wir am Sonntag am Qing Xiu Shan waren und aus der Quelle des "Champions", des "Ersten" tranken, kamen wir auf ein ähnliches Thema: So meinte Duncan, wenn er einen Sohn bekäme, er würde ihn "...", Dritter, nennen. Und ich fragte: "Wieso nicht Erster? Ist das nicht besser?" - "Nein!", meinte er und ich hatte fast das Gefühl, als würde er über meine Frage lachen. Und auf meinen fragenden Blick erklärte er: " Früher musste der Beste - z.B. in der Prüfung um Ministerposten - die Prinzessin heiraten. Und das hieß, er wurde hinterher Kaiser. Und das ist ja wohl nichts Gutes, oder?" Leicht perplex stimmte ich ihm zu - zu viel Verantwortung... Aber heute gibt es keine Kaiser und Prinzessinen mehr, oder?

"Und auch heute ist es nicht so gut, immer der Beste zu sein. Zu viel Aufmerksamkeit. Man kann zufrieden sein mit dem Dritten Platz: Es ist ein Gutes Ergebnis, und es ist eben auch nicht überragend. Mehr kann man nicht wollen."

An jenem Sonntag schien es mir wie eine Geschichte, vielleicht auch nur seine persönliche Einstellung. Aber tatsächlich scheint dieses unangenehme Gefühl alle Menschen zu befallen, wenn sie aus der Menge hervortreten und Held sein müssen. Haben sie die Wahl, so verstecken sie sich lieber weiterhin. Und offenbar war es genau das, was die Menschen in Guangzhou umgetrieben hat. Auch Patrick hat schon bei einem Unfall erste Hilfe geleistet - obwohl er erst kurz darauf dazugestoßen ist. Die Menge, die sich darum versammelte, starrte nur. Außer Patrick traute sich niemand, die Initiative zu ergreifen. Dabei sind die Chinesen eigentlich ein warmherziges und hilfsbereites Volk - solange sie damit nicht herausstechen, solange es um Alltagsdinge geht.

Wer weiß, vielleicht stammt die Rede vom "lachenden Dritten" ursprünglich aus China - mit einer leicht anderen Bedeutung...

Fingernägel

Die Kaiserin Cixi war berühmt für die langen Fingernägel - vor einem Jahrhundert
Die Kaiserin Cixi war berühmt für die langen Fingernägel - vor einem Jahrhundert

Wenn es etwas gibt, das wirklich rückständig ist, hier in China, dann sind es die ellenlangen Fingernägel...

Natürlich steckt das gleiche Gedankengut dahinter, wie bei den Regenschirmen, jedoch wird erst hier richtig offensichtlich wie tief diese Vorstellungen noch in den Menschen verankert sind, denn Regenschirme haben - gewöhnt man sich einmal an sie - viele nicht zu leugnende Vorteile. Zum einen schützen sie bei jedem Wetter und zu viel Sonne ist schließlich tatsächlich nicht sehr gut für Haut und Haar - wer hat schon gern Sonnenbrand oder einen Sonnenstich? Außerdem machen die in der Sonne leuchtenden, schön bunten Regenschirme der Mädchen die Stadt gleich ein wenig bunter und fröhlicher. So lange Fingernägel, wie sie besonders von Männern gern getragen werden, sehen aber nicht schön aus, sondern nur ungepflegt, oft gelb-bräunlich, meist biegen sie sich in großem Bogen zur Innenseite, sie sind verhornt... Und dazu noch unglaublich unpraktisch. Ständig bleibt man irgendwo hängen, immer ist da irgendwie zu viel - wer ist bitte schön mit drei Stäbchen???

Nein, die sind wirklich abscheulich. Zum Glück gibt es mittlerweile auch viele junge Chinesen, die modern eingestellt bei diesen altmodischen Trends nicht mehr mitmachen. aber schon einige unserer Schüler kultivieren leider diese langen Nägel...

Und manche treiben es auf die Spitze: wenn ich euch sage, dass ich letztens einen alten Mann gesehen habe, der längere Nägel hatte, als Cixi auf dem Bild, würdet ihr mir das vermutlich nicht glauben. Aber es ist mein voller ernst. Leider.

Regenschirme

Regenschirme im Sonnenschein
Regenschirme im Sonnenschein

Wie Ebru so schön präzisiert hat: Die Chinesen sind wohl die einzigen Menschen, die bei jeder Jahreszeit ihre Regenschirme dabei haben:

Natürlich könnte es regnen, da sollte man natürlich gewappnet sein, könnte man meinen, aber nein, die eigentliche Gefahr geht offenbar von der Sonne aus: Kaum scheinen die ersten Sonnenstrahlen durch die dünne Wolkendecke werden die Schirme gezückt wie Schilder, bereit zum Kampf gegen die UV-Strahlung.

Warum? Was in Deutschland als hip gilt ist hier immer noch Zeichen von harter, körperlicher Arbeit im Freien, also Armut: Bräune.

Kaum eine chinesische Studentin, die bei Sonnenschein Sport macht, bei wolkenverhangenem Himmel sieht man da um einige mehr.

Schön ist, wer blass ist - haha, Pluspunkt für mich, ich die in Deutschland unablässig versucht hat, wenigstens einen Hauch Bräune auf die Haut zu zaubern - ja, und so kommt es, dass viele Gentlemen ihren Freundinnen den Regenschirm schützend über ihren zarten Teint halten.

Und aus eben diesem Grund müssen wir in der Stadt auch immer Acht auf unsere Augen geben - die sind hier auf Regenschirmspitzenhöhe, da die meisten Chinesinnen kleiner sind, als wir. Ich frage mich, wie es am Silverbeach von Beihai aussieht - ob Chinesinnen auch mit Regenschirm schwimmen gehen?

Weise Weisen

 

Heimat ist nicht

da oder dort.

Heimat ist in dir drinnen

 - oder nirgends.


Hermann Hesse